Einst ein Spielzeugparadies
Das Grundstück ist klein und verwinkelt, aber verkehrsgünstig gelegen, direkt neben der SBB-Doppelspur nach Zürich. Um 1950 herum beauftragte der Spielwarenhändler Franz Carl Weber den Architekten Rudolf Kuhn, hier ein zentrales Lagerhaus für Spielwaren zu bauen.
Dieser plante einen Hochbau mit Vorhangfassade, welche er von Etage zu Etage um 15 cm nach aussen versetzte. Das Gebäude sollte sich über die sechs Stockwerke wie ein Teleskop in die Höhe schieben und dadurch eine maximale Nutzbarkeit der Fläche gewährleisten.
Die abgestufte Fassade stiess wegen ihrer Ästhetik auf den Widerstand der Baupolizei und verzögerte damit den Baubeginn. 1954 erfolgte der Spatenstich aber dennoch. Einige Jahre später wurde das Gebäude gerade wegen seiner aussergewöhnlichen Architektur in das Inventar der schützenswerten Industriebauten aufgenommen.
Während noch 1971 ein 3-stöckiger Anbau die Lagerfläche vergrösserte, ging bald darauf eine Ära zu Ende: Die Denner AG übernahm 1984 die Franz-Carl-Weber-Handelsgruppe und damit auch das Lagerhaus. Die Spielsachen wurden geräumt und kurz vor der Jahrtausendwende holte die Natur mit Sturm Lothar schliesslich noch das «Gampiross» vom Dach.
Willkommen im Traumland am Gleismeer
Ein Billardzentrum und zwei Freikirchen sind im Jahr 2000 im Haus, als die Initiant*innen von Gleis 70 die ersten Mietverträge unterzeichnen. Die eigens dafür gegründete Genossenschaft belegt darauf bald jede Etage und wird zur grössten Mieterschaft der ehemaligen Lagerhallen.
Den Innenausbau nehmen die Genossenschafter*innen selber in die Hand und neue Räume entstehen bisweilen wie im Wilden Westen: Platzanspruch abgesteckt, Mauern rundherum gebaut und von irgendwo im Haus eine passende Tür geholt. Platz hat es genug. Erzählt wird von einem labyrinthartigen Zustand in der vierten und von Geheimzimmern in der fünften Etage.
Als kurz nach dem Einzug die Liegenschaft unerwartet zum Verkauf steht, entscheidet die Genossenschaft, alles daran zu setzen, das Haus zu kaufen. Dank grossem Verhandlungsgeschick gelingt das Vorhaben. Gleis 70 wird Mitbesitzerin der Liegenschaft, gemeinsam mit zwei Pensionskassen – als Konsortium Dreamland am Gleismeer. Am 19.12.2002 unterzeichnet sie den Kaufvertrag.
Bewegte Zeiten brechen an. Viele Zürcher*innen kennen den Ort wegen der Partys in der Dachkantine. Im Traumland am Gleismeer wird gefeiert und gelebt – im dritten und fünften Stock befinden sich Wohngemeinschaften – hauptsächlich aber arbeiten die Mieter*innen im und am Haus.
2006 wird die Kantine auf dem Dach vergrössert und 2008 erfolgt der eigentliche Umbau. Das Haus erfährt eine energetische Aufwertung durch die Fassadenerneuerung und später durch das neue Blockheizkraftwerk, das seit 2019 mit Biogas betrieben wird.
Heute ist das Ungestüm der Aufbruchsstimmung einer gewissen Strukturierung gewichen und ausser dem Gast im Gastatelier wohnt niemand mehr im Haus. Gemeinsame Projekte, neue Ideen, leises Schaffen und laute Diskussionen der Mieter*innen aber sorgen für die Fortsetzung der Hausgeschichte.
In Zahlen
- Baubeginn: 1954
- Einweihung: 1955
- Anbau: 1971
- Sanierung Fassade: 2008
- Blockheizung: 2015
- Nutzfläche gesamt: 10'600 m²
- Überstand der Fassade pro Etage: 15 cm
- Überstand der Fassade über alle Etagen: 75 cm
Medienberichte
- Das FCW Lagerhaus: ein Bau von Rudolf Kuhn, Schweizer Ingenieur und Architekt (1999)
- Lagerhaus und Ateliergebäude Franz Carl Weber, Bauen und Wohnen (1956)
Über Rudolf Kuhn, Architekt und Autor
Grundrisse
- Grundriss 1.OG Altbau
- Grundriss 1.OG Neubau
- Grundriss 2.OG Altbau
- Grundriss 2.OG Neubau
- Grundriss 3.OG Altbau
- Grundriss 4.OG Altbau
- Grundriss 5.OG Altbau
- Grundriss 6.OG Altbau
- Dachaufsicht Altbau
- Dachaufsicht Neubau
- Grundriss EG Neubau
- Grundriss UG Altbau
- Grundriss UG Neubau
Restaurant Kantine Hermetschloo